Gestern sind wir hier in Rezekne hängengeblieben. Auch, weil wir ein Konzert des französischen Saxofonisten Sylvain Rifflet besuchen wollten.
Unsre Abreise vom Campingplatz in Aglona war nicht ganz unproblematisch: die 4-Tonnen-Karre bergauf zu bewegen, nachdem wir sie der besseren Aussicht wegen vorher quergestellt hatten: die Wiese war naß und rutschig, der geschotterte Weg mit sandigem Untergrund. Außerdem war die zur Verfügung stehende Rangierbreite knapp. Schließlich haben wir es aber mit vereinten Kräften (Harri draußen mit Kommandos, ich drinnen mit sensiblem Gaspedal), zwei von den Hütten ausgeliehenen Fußmatten plus unsrer Autotechnik (Luftfederung etc.) geschafft. Da wünscht man sich doch einen Vierrad-Antrieb!
Unsre Campingplatzbesitzerin, die sich nur sehr mühsam bewegen kann, ist nach unsrer Schätzung in den 80ern. Sie spricht ganz gut Deutsch. Mit Stolz erzählt sie, daß ihr Vater immer darauf bestanden hat, daß sie Deutsch lernt. Die Deutschen sind in ihrer Familie hoch angesehen, sagt sie, und zählt die bekannten Tugenden auf. Sogar die Soldaten seien fair gewesen und hätten den Kindern Süßigkeiten geschenkt, während die Russen immer nur geplündert hätten. Ihr Schwiegervater wurde nach Sibirien deportiert für 25 Jahre, "ging dann aber zur russischen Armee", und bekam schließlich 15 Jahre seiner Verbannung erlassen, weil er drei Militärauszeichnungen erhalten hatte. Bei der Menschenkette 1989 zur Unabhängigkeit des Baltikums war sie dabei. Ihr Mann ist vor einem Jahr gestorben, nachdem er zwei Jahre mit Demenz zu kämpfen hatte. Ihre behinderte Tochter lebt mit im Haus (wir hörten sie ab und zu rufen), während der Sohn in Aglona ein Gasthaus besitzt. Er muß immer mal aushelfen - so hatte er uns am Abend vorher auch die Sauna angeheizt.
Die Geschäfte gehen seit der Pandemie nicht gut, und jetzt bereisen viele Touristen das Baltikum aus Angst vor Putins Territorialansprüchen nicht mehr. Seit vier Jahren sind wir die ersten Deutschen, die hier Station machen. Man spürt auch deutlich ihre eigene Sorge vor einer russischen Invasion.
Wir verlassen sie mit all unseren guten Wünschen, nachdem sie uns noch einen Honig geschenkt hat.
mal wieder "unbefestigte Strasse" |
Rezekne ist nicht weit entfernt, und wir geraten auf dem ausgewiesenen Stellplatz am Seeufer mitten in eine riesige Kindergeburtstagsparty. Auch ist der Platz ganz offensichtlich noch nicht fertig gebaut, aber das tut der allseitigen Freude keinen Abbruch. Zum ersten Mal treffen wir andere Camper-Reisende und tauschen ein paar Erfahrungen aus. Unsre Nachbarn sind ein ehemaliges LKW-Fahrer-Paar aus Sachsen, die das Fahren nicht lassen können, und jetzt zum Vergnügen die Welt bereisen.
Die Kinder-Party ist mit allem ausgestattet, was der Platz zu bieten hat: Hüpfburgen, ein großer Badezuber....Väter, Mütter, Omas und Opas sitzen auf Bänken und sehen dem Treiben zu. Wir wundern uns sehr, wer sich das alles wohl leisten kann, vor allem, wenn man das überschaubare Ortsangebot an Restaurants, Geschäften und Cafés betrachtet, aus dem man auf eine geringe Kaufkraft schließen kann, oder den Zustand der Wohnhäuser in Betracht zieht. Es gibt hier extreme Unterschiede vom komplett baufälligen aber noch bewohnten Haus bis zu schicken Tiny Houses am See. Die Stadt hat riesig investiert in hypermoderne Gebäude wie z.B. das GORS, ein multifunktionales Kulturzentrum.
Kollege :-) |
mit Kübeln für Heilpflanzen (siehe Aufschriften) |
Vorsitzender der Apothekervereinigung |
Beim Blick auf die "Söhne und Töchter der Stadt" (Wikipedia) erscheinen gleich zwei uns bekannte Namen: die Sopranistin Kristine Opolais und die Organistin Iveta Apkalna. Beide haben wir schon im Konzerthaus Dortmund gehört. Und wir erinnern uns besonders an ein Konzert unter dem Dirigat von Andris Nelsons, bei dem der Konzertmeister einspringen mußte, weil die kleine Tochter von Nelsons und Opolais plötzlich schwer erkrankt war und der Vater spontan abreisen mußte.
Wir hören nachmittags im GORS einen französischen Saxophonisten mit seinem Quartett: Sylvain Rifflet. Toller Jazz! Leider hatte ich die Anfangszeit verwechselt und so kamen wir zu spät. Aber auch das ist Lettland: man ist freundlich und läßt uns noch ein, führt uns im Dunkeln zu freien Plätzen. Da haben wir in Deutschland viele ganz andere und negative Erfahrungen gemacht.
In der winzigen (von insgesamt in der 30T-Einwohner-Stadt zwei) Pizzeria am See halten wir noch einen Schwatz mit ein paar Dänen, die hier für Ikea arbeiten. Seit zwei Wochen sind sie im Lande. Lettland hat viel Holz und preiswerte Arbeitskräfte.
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